Im Rahmen des Deutschunterrichts, haben wir den Text «Der Sandmann» gelesen, der von E. T. A. Hoffmann geschrieben und 1816 veröffentlicht wurde. Dabei haben wir als Klasse zentrale Deutungsaspekte erarbeitet und besprochen. In diesem Text werde ich vertieft auf den Aspekt des Augenmotivs und des Perspektivs eingehen. Zudem werde ich im zweiten Teil auf die Täuschung der Wahrnehmung durch Künstliche Intelligenz eingehen.
Im Text «Der Sandmann» geht es um einen Studenten namens Nathanael, der mit einem Mädchen namens Clara verlobt ist. Als Kind wird Nathanael stark traumatisiert, weil sein Vater bei alchemistischen Experimenten mit dem Advokat Coppelius stirbt. Jahre später taucht der Wetterglashändler Coppola auf, von dem Nathanael glaubt, dass es Coppelius ist. Gleichzeitig verliebt er sich in seine Nachbarin Olympia, die sich dann als mechanische Maschine herausstellt, die von seinem Professor Spalanzani und von Coppola hergestellt wurde. Diese Ereignisse treiben Nathanael in den Wahnsinn und am Ende in den Tod.
In der Szene in der Nathanael traumatisiert wird und auch in anderen Szenen spielen die Augen eine wichtige Rolle. Die Augen sind das wichtigste Sinnesorgan der Menschen, denn ohne die Augen kann man Objekte und Geschehnisse nicht mehr wahrnehmen. Die Tatsache, dass Coppelius an Nathanael als Kind die Augen wegnehmen wollte, und dass der Sandmann in den Kindergeschichten Sand in die Augen streut, lässt vermuten, dass Nathanael die Realität nicht mehr wahrnimmt und nur noch seine eigenen Vorstellungen sieht. Dass es verschiedene Sichtweisen auf die Geschichte gibt, also dass zwei Geschichten aus zwei Perspektiven erzählt werden, darauf deuten auch die Augen hin. Die erste Perspektive auf die Geschichte ist die rationale Sicht der verlobten Clara. Sie erklärt Nathanaels Wahnsinn aus psychologischer Sicht und erklärt ihm seine Probleme rational. Die andere Perspektive ist die Romantische, Fantastische, an die Nathanael glaubt, nämlich dass er von Coppelius verfolgt wird und von unerklärlichen Mächten heimgesucht wird. Hoffmann lässt aber bewusst offen, welche Geschichte die richtige ist, indem er für beide Perspektiven Hinweise im Text hinterlässt. Das sieht man beispielsweise am Ende des Buches, wo Nathanael vom Turm eines Gebäudes springt, weil er Coppelius durch das Perspektiv in der Menge gesehen hat. Dadurch, dass er ihn durch das Perspektiv gesehen hat, wird darauf hingedeutet, dass Nathanael nur verrückt war und nicht wirklich verfolgt wurde, denn durch das Perspektiv sieht er Ereignisse und Dinge anders als sie sind. Auch der Satz «Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden» (Sandmann, S. 50) deutet auf die rationale Erklärung hin, weil es vermuten lässt, dass Coppelius in diesem Moment nur in Nathanaels Kopf war. Im Buch finden sich aber auch Momente, die die andere Perspektive unterstützen. Beispielsweise erwähnt der Autor Coppelius und Coppola zweimal unmittelbar nacheinander. Das soll darauf hindeuten, dass Coppola und Coppelius die gleiche Person ist und somit Nathanael wirklich von ihm verfolgt wird.
Auch wird Nathanaels Wahrnehmung durch das Perspektiv von Coppola getrübt. Das Perspektiv war damals neu und machte kleine Dinge gross und umgekehrt, also verfälscht und verdreht es die Wahrnehmung von Dingen. Durch das Perspektiv erscheint ihm der Apparat Olympia als lebendig, aber die echte Clara nimmt er als leblosen Automaten dar, was zeigt, dass sein Sehen durch das Perspektiv verfälscht wurde.
Nathanaels Wahrnehmung wurde unter andrem durch Coppolas Perspektiv so getäuscht, dass er glaubte, der Automat Olympia sei eine echte Person. Dadurch stellen sich die Fragen, «Was ist noch echt?» oder «was kann ich noch glauben?». Es stellt sich auch die Frage, wo die Grenze zwischen Menschen und der Maschine ist. Der Autor wollte damit die damalige aufklärerische Gesellschaft und die immer wichtiger werdende Wissenschaft kritisieren. Die Romantik entstand als Gegenbewegung zur Aufklärung und zur Rationalisierung. Auch in der heutigen Zeit sind diese Fragen wieder äusserst relevant und das Thema der Wahrnehmung und Täuschung ist heute durch Künstliche Intelligenz (Abk. KI) aktueller denn je. Beispielsweise kann man mit KI täuschend echte Videos und Bilder erzeugen, die nicht real sind und die Menschen irreführen, da man oft schon fast nicht mehr erkennen kann, ob etwas KI generiert ist oder nicht. Auch Nathanael kann in der Geschichte die Maschine nicht mehr von der Realität unterscheiden und lässt sich täuschen. Ebenso kann man bei Nachrichten (E-Mails) oder bei Telefonaten oft nicht mehr unterscheiden, ob ein Mensch oder die KI dahintersteckt. So werden Menschen beispielsweise durch Telefonate betrogen, indem durch KI die Stimme eines Familienmitgliedes so gut nachgeahmt wird, dass man gar nicht erkennt, dass es sich gar nicht um echte Person handelt. Wie Nathanael besessen von Olympia, einem Automaten, ist und nur noch an sie denken kann, gibt es auch in unserer Zeit Personen, die abhängig von menschenähnlichen Programmen werden, zum Beispiel von Chatbots, und mit ihnen Freundschaften oder Liebesbeziehungen beginnen. Diese Menschen flüchten oft von der Realität in diese virtuelle Welt, weil sie in der echten Welt einsam sind, soziale Ängste haben oder weitere psychische Probleme haben. Dies kann zum Problem werden, weil diese Personen dann die Technologie nicht mehr von der realen Welt unterscheiden und die beiden ineinander verschwimmen. Das führt dazu, dass bei diesen Personen die Probleme noch stärker und schlimmer werden. In sehr schweren Fällen kann das bis zum Tod führen. Beispielsweise hat sich laut einer Mutter ein 14-jähriger Junge in Florida aufgrund eines Chatbots das Leben genommen. Der Autor wollte mit dem Text «der Sandmann» logischerweise nicht auf die Gefahren von Künstlicher Intelligenz hinweisen. Er wollte die Verantwortung der Wissenschaft aufzeigen, was auch heute noch bedeutsam ist.
E.T.A. Hoffmann (2003): Der Sandmann. Text und Kommentar. Kommentiert von Peter Braun. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
https://www.zdf.de/nachrichten/wissen/kuenstliche-intelligenz-luegen-betruegen-100.html
https://www.theguardian.com/technology/2024/oct/23/character-ai-chatbot-sewell-setzer-death
Bild: https://www.pexels.com/de-de/foto/schwarz-und-weiss-schwarzweiss-auge-schuler-13477136/